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Aus den Verträgen
Leitartikel
Steigende Arzneimittelkosten belas-
ten zunehmend die Gesundheitsaus-
gaben. Ärztliche Verordnungen im
Sinne einer rationalen Pharmako-
therapie sind mehr denn je erforder-
lich. Die Vertragspartner beziehen
Stellung zur aktuellen AMNOG-De-
batte und empfehlen eine Stärkung
der regionalen Verantwortung durch
Selektivverträge.
Derzeit wird heftig über das Arzneimit-
telmarktneuordnungsgesetz (AMNOG)
zur frühen Nutzenbewertung gestrit-
ten. Die Pharmalobby beklagt fünf
Jahre nach Start des Gesetzes Markt-
rückzüge, die Vermeidung von Ein-
führungen sowie Versorgungsdefizite
selbst bei positiv bewerteten Arznei-
mitteln. Demgegenüber bilanzieren die
Krankenkassen, dass das AMNOG-
Ziel, zwei Milliarden Euro einzusparen,
bislang weit verfehlt worden sei.
Fakt ist: Die Arzneimittelausgaben
steigen deutlich. Bei der AOK Baden-
Württemberg betrug der Pro-Kopf-An-
stieg pro Versicherter beziehungsweise
Versichertem in den vergangenen zehn
Jahren insgesamt 35 Prozent. In den
letzten drei Jahren waren es im Schnitt
sogar 5,4 Prozent. Hauptgründe sind –
neben der Absenkung des Zwangsra-
batts – „Hochpreise“ für patentge-
schützte neue Medikamente. Deren
Preise liegen in Deutschland weiterhin
deutlich über dem EU-Schnitt.
Klare Worte findet der Vorstandsvor-
sitzende der AOK Baden-Württemberg
Dr. Christopher Hermann. Die „Hemm-
schwelle für Hochpreisforderungen bei
neuen Arzneimitteln“ sei gesunken, wie
das Beispiel des Hepatitis-C-Präparates
Sovaldi gezeigt habe. Und auch bei den
onkologischen Arzneimitteln „stehen
wir erst am Anfang eines neuen Ausga-
bensprungs“, so Hermann. Die Politik
sei gefordert, die Lücke im AMNOG zu
schließen, die der Pharmaindustrie die
Möglichkeit eröffnet, ihre Preise für neue
Arzneimittel im ersten Jahr nach Markt-
eintritt weiterhin frei zu gestalten und
teilweise „Mondpreise“, so Hermann,
zu verlangen. Die Einführung von Ra-
battverträgen bei generischen Medika-
menten habe bewiesen, dass signifikante
Preisnachlässe ohne Einschränkung der
Versorgungsqualität möglich seien. Die
Verträge hätten den Wettbewerb spürbar
belebt und es sei gelungen, aus den über-
zogenen Preisen buchstäblich „die Luft
rauszulassen“. Allein die AOK-Gemein-
schaft habe dank der Arzneimittelverträ-
ge in den vergangenen acht Jahren (2007
bis Ende 2014) knapp vier Milliarden
Euro weniger für Medikamente ausge-
ben müssen.
Der Pharmaforderung, Arzneimittel mit
einem vereinbarten oder festgestellten
Erstattungsbetrag als „wirtschaftliche
Leistung“ einzustufen, erteilen die Ver-
tragspartner eine Absage. Das würde
einem generellen „Freifahrtschein“ glei-
chen und falsche Signale senden. Denn
selbst nach Preisnachlässen aufgrund
von Rabattverträgen seien patentge-
schützte Arzneimittel nicht per se wirt-
schaftlich.
Ferner fordern die Vertragspartner mehr
regionale Entscheidungsautonomie und
die originäre Möglichkeit dezentra-
ler Verhandlungen. In entsprechenden
Fällen sollte ein Verhandlungsmandat
eröffnet werden, um realistischere regi-
onale Preise für neue Medikamente zu
erzielen.
Und auch manche Arzneimittelhersteller
haben das Ziel, im Rahmen von indivi-
duellen Verträgen mit den Krankenkas-
sen zusammenzuarbeiten, um die Ver-
sorgung der Versicherten zu verbessern.
Die Möglichkeiten hierzu sollten weiter
ausgebaut werden, um den Wettbewerb
der Krankenkassen um die beste Versor-
gungsqualität zu fördern.
Die Versorgung mit Arzneimitteln sei
nach wie vor sehr gut in Deutschland.
„Und wir wollen keine Rationierung“,
betont AOK-Chef Hermann. „Um das
Solidarsystem nicht auf Dauer zu spren-
gen, muss gerade der Einsatz innovati-
ver Arzneimittel in Zukunft noch sehr
viel differenzierter erfolgen.“
Nicht alle Patienten profitierten von et-
waigem Zusatznutzen, und selbst wenn,
sei sorgfältig abzuwägen, ob die indivi-
duelle Kosten-Nutzen-Relation stimmt.
Das gelte insbesondere angesichts der
demografischen Entwicklung mit ei-
ner zunehmenden Zahl älterer und
multimorbider Patienten. So ist bereits
jetzt jeder fünfte Versicherte der AOK
Baden-Württemberg 65 Jahre und älter.
Fast die Hälfte der verordneten Medi-
kamente entfiel 2014 auf diese Gruppe.
Im Abgleich von Effektivität, Ange-
„Keine Mondpreise mehr
im ersten Jahr.“
Dr. Christopher Hermann, Vorstandsvorsitzender
der AOK Baden-Württemberg
Selektivverträge haben
die besseren Rezepte
Jürgen Stoschek